Dr. Diane Shooman
Stellen Sie sich vor: Es ist Montag Morgen und Sie müssen aufstehen. Der Wecker elektrisiert die Haare, aus dem Bett rollen Sie nicht ganz ohne Groll. Mit noch geschlossenen Augen versuchen Sie in die fetzigen Filzpatschen hineinzuschlüpfen. Plötzlich landet ein Sonnenstrahl wie ein Rampenlicht auf Ihrem äußerst gewöhnlichen Fuß. Dann dämmert’s: Guten Morgen. Sie sind die Heldin oder der Held des Alltags.
Selten fällt der Glanz auf unsere täglichen Tätigkeiten und die Gebrauchskleidung, die sie begleiten. Ich sehe z.B., daß Sie heute abend die Schlapfen zu Hause eingesperrt haben und im Abendgewand herumglissieren. Sehr elegant. Die Patschen dürfen, wie Aschenputtel, nicht auf das Fest. Oder?
Was steht eigentlich im glänzenden Mittelpunkt dieses feierlichen Anlasses?
Einen näheren Blick auf die juwelartigen Objekte, die diesen Raum schmücken, deckt eine Überraschung auf: Die Hauspatschen sind doch da. Sie sind verwandelt und hierher gezaubert worden, und sind die schönsten des ganzen Fests. Werkzeuge werden zum Ornament; Schuhe und Werkhandschuhe werden versilbert oder mit Vergoldung verziert, wie die heiligen Schriften der Romanik. In den Händen von Bernhard Tragut wird das Handwerk des Fußvolkes dekoriert.
Diese Ikonen und Altäre der Handarbeit sind aber aus einem anderen Holz geschnitzt als die monumental-gemeißelten Arbeiterhelden, die man aus der ehem. Sowjetunion kennt. Oder z.B. als der Arbeiterheld von Maos kultureller Revolution, Lei Feng, der, der Legende nach, sechs Jahre lang seine heroischen Füße mit ein und demselben Paar Socken bezog.
Lei Feng und die sowjetischen Männer aus Marmor und Eisen stellten eine öffentliche, unantastbare Idealisierung der Alltagsarbeit dar. Im Gegensatz dazu bieten Traguts Kleidungsstücke – worin einiges mehr als bloß Hände und Füße stecken! – handhabbare Verstecke für den freien Lauf der Privatfantasien, während wir den Alltag bewältigen müssen. Tatsächlich wirken sie eher wie Aschenputtels Pantoffel, durch den ihr edles Wesen an ihrem Fuß abzulesen ist.
Überlegen wir uns kurz, was uns die Kleidung bedeutet. Sie ist nämlich nicht so oberflächlich, wie sie scheint. Wenn wir alle in FKK leben würden, dann wären wir gleich aufgeputzt für die Hochzeit sowie für die Putzarbeit. Das wäre fad. Stellen Sie sich vor, einen Augenflirt ohne Maskara zu führen.
Die Sonntags- und Partykleidung scheint uns magische Kräfte zu verleihen. Wir ziehen sie an und – zack! – plötzlich strahlen wir. Das ist übrigens nichts Neues. In der Bibel gab es schon Gerüchte, daß Nimrod seine ganze Macht einem Second-Hand Pelz, den einst der Adam trug, zu verdanken hatte. Meine Freundin Colette z.B. bekleidet sich für Telefonate besonders schön, damit es auch durch die Leitung funkt.
Wie heißt diese Kraft, die uns die Partykleidung verleiht? Nennen wir sie “die Hoffnung”. Hoffnung darauf, etwas Besonderes zu erleben. Vor allem aber, etwas Besonderes zu sein.
Der Glanz des für-besondere-Anläße-Getragenen: Ist der Alltag dagegen nicht ein bißchen blaß?
Wenn wir den Alltag nicht rechtzeitig mit dem Auge der Fantasie erblicken, besteht die Gefahr, daß er uns entschlüpft und erst im Reich der Erinnerung richtig lebt. Wenn jemand uns verläßt, sind es die Sachen, die er oder sie täglich anhatten, die die Person evozieren und uns rühren. Warum? Wenn man feine Fäden anzieht, will man bewundert werden, und wehe dem, der nicht die entsprechende Aufmerksamkeit aufbringt. Aber in der Alltagskleidung hat die Person einfach weiter getan, ohne zu wissen, daß sie dabei betrachtet, wahrgenommen, geliebt wurde. Es ist also die Kleidung der Wiederholung, die uns dann zum Schluß wirklich etwas bedeutet.
Aber ist es nicht gerade diese Wiederholung, wodurch die Alltagstätigkeiten und Objekte ihren Glanz verlieren? Wollen wir zwischen Hoffnung, Erinnerung und Wiederholung unterscheiden, dann greifen wir am besten zum Philosophen. Ich zitiere aus Søren Kierkegaards Die Wiederholung:
“Die Hoffnung ist ein neues Stück Kleidung, steif und glatt und glänzend, man hat es jedoch nie angehabt und weiß daher nicht, wie es einen kleiden wird und wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleidungsstück, das, so schön es auch ist, doch nicht paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unzerschleißbares Kleid, das fest und doch zart anschließt, weder drückt noch schlottert. Die Hoffnung ist ein reizendes Mädchen, das unseren Händen entflieht. Die Erinnerung ist eine schöne alte Frau, mit der einem jedoch im Augenblick nie gedient ist. Die Wiederholung ist eine geliebte Gattin, deren man nie müde wird. Denn es ist nur das Neue, dessen man überdrüssig wird, nie das Alte …”
Es ist merkwürdig mit der Wiederholung. Wenn es um eine Aufgabe geht, bei der man durch die Wiederholung nichts Neues zu entdecken hat, wie z.B. bei einem Fließband, stumpft man durch die Wiederholung nur ab.
Aber es gibt Tätigkeiten – ebensowie Menschen – die nicht alles von sich auf einmal preisgeben. Man kann nur durch die Wiederholung sich vertiefen, mehr erfahren, mehr werden. Das betrifft z.B. das Kunsthandwerk, Musikinstrumente, den Tanz, die Mathematik, das Meditieren usw. Plötzlich und unerwartet kommt ein Durchbruch. Wir tauchen tiefer, wir penetrieren. Man geht den gewohnten Weg und stürzt plötzlich in ein Loch, und landet auf einer höheren Ebene.
Das Rätsel ist: Wo ist die Grenze? Wann werden wir merken, dass der Abwaschgummihandschuh eigentlich das Instrument der erotischen Erregung verbirgt?
Es kippt wenn die Wiederholung uns eine neue Einsicht gewährt. Ein Guckloch öffnet sich und damit ein neues Terrain für unsere freie Fantasie, ohne Zensur. Durch die Wiederholung wird der Glanz also nicht unbedingt abgetragen. Wenn Bernhard Tragut seine Holzschuhe poliert, ist es wie die Lampe von Aladdin. Was herausglänzt, ist der Künstler selber, und die Werkzeuge seiner kreativen Möglichkeiten. Durch den Geist von Aladdins Lampe werden Wünsche verkörpert. Durch die Kunst hat der Geist der Fantasie Hand und Fuß.
Manche versuchen, die Geheimnisse der Zukunft an der Fläche der Hand herauszulesen. Aber die Gegenwart ist noch geheimnisvoller als die Zukunft. Traguts Werkhandschuhe legen nicht alles frei, aber geben uns durch die durch wiederholte Tätigkeiten abgetragenen Gucklöcher die Gelegenheit, die Geheimnisse der Gegenwart zu erahnen. Die Schönheit der Welt liegt uns zur Hand, Instrument der schöpferischen, erotischen Erfüllung.
Sagt unser Philosoph Soren K. zur Gegenwart:
“Die Liebe der Wiederholung ist in Wahrheit die einzige glückliche. Sie hat wie die der Erinnerung nicht die Unruhe der Hoffnung, nicht die beängstigende Abenteuerlichkeit der Entdeckung, aber auch nicht die Wehmut der Erinnerung, sie hat die selige Sicherheit des Augenblicks”.
Ich wünsche Ihnen schöne Augenblicke, und danke Bernhard Tragut für den kunstvollen Alltag.
Dr. Diane Shooman